Die Ausgewischten Spuren der Städte

Asli Cicek über die Ausstellung SURREAL ESTATE Doris Frohnapfel | Ina Wudtke Galerie b2 in Leipzig
für das türkische Kunst-und Architektur-Magazin „XXI“ (Oktober 2014), (Übersetzung Asli Cicek).

Städte bestehen aus Spuren: Spuren der Menschen, der Geschichte, des Klimas, der Zeit… Eine Stadt, deren (Entstehungs-) Geschichte nicht lesbar ist, ist nicht reizvoll. Spuren, auch wenn sie manchmal Ruinen sind, zeigen dem Besucher einer Stadt ihre historische Entwicklung. Bis vor kurzem war der Krieg der größte Faktor, der die Spuren der Städte austilgte. Die Geschichte der Menschheit (und der Architektur) ist voll von geplünderten, zerstörten Städten; einige davon konnten hartnäckig überleben, die meisten ihre Existenz sogar fortsetzten, auch wenn sie die einstige Pracht oft aufgeben mussten. Heutzutage werden die Spuren der Städte aber nicht mehr nur durch Kriege gelöscht. Der durch Profit motivierte Ankauf von Wohnblöcken, deren darauf folgende Zerstörung zugunsten neu zu errichtender Gebäude verändert heimtückisch die Gesichter vieler Innenstädte. Die Ausstellung Surreal Estate von den Künstlerinnen Doris Frohnapfel und Ina Wudtke stellt diesen Fakt anhand von zwei verschiedenen Städten und Perioden dar. Die gezeigten Werke, bestehend aus Fotografien, einem 45 Min. langen Video und einer Vitrine mit Fundstücken, beeindrucken den Besucher auf eine stille Art und Weise.

Auf parallelen Wegen laufend, laden die zwei Künstlerinnen die Besucher ein, nach den verdeckten historischen Spuren der Städte Beirut (Frohnapfel) und Berlin (Wudtke) zu suchen. Doris Frohnapfel, die sich nach ihrem Architekturstudium zu den bildenden Künsten hinwandte und mit Fotografie sowie Installationen arbeitet, hielt sich zwischen 2012 und 2013 zwei Mal in Beirut auf. Die fotografischen Arbeiten in der Ausstellung Surreal Estate hat sie jeweils im Oktober 2012 und 2013 innerhalb von fünf und zwölf Tagen aufgenommen. An verschiedenen Orten der Stadt fotografierte sie Gebäude, die zwischen den vierziger und achtziger Jahren in dem entsprechenden Zeitgeist errichtet wurden. Heute stürzen die meisten dieser Bauten fast ein und geraten in die Hände von Investoren, die an die selben Stellen neue, höhere Gebäude setzen, ohne städtebauliche Prinzipien zu beachten. Auch diese Neubauten sind Teil von Frohnapfel’s Arbeit und bekamen den Titel ‘Construction Sites’. Die anderen einundzwanzig Bauten, die vermutlich verschwinden werden, sind unter dem Titel ‘Confrontation Sites’ gruppiert. Alle Fotos sind aus der Augenhöhe aufgenommen und vermitteln trotz ihrer kleinen Formate (20 x 20 cm und 35 x 28 cm) den Eindruck, als ob man selber auf den Straßen laufen würde. Gleich unter den ‘Confrontation Sites’ sind die einunddreißig Bauten von ‘Construction Sites‘ aufgehängt. Diese Komposition bringt den Verfall und den Aufstieg von Architektur visuell zusammen: Die Gebäude in der Serie ‘Construction Sites‘ können auch als verlassene Ruinen wahrgenommen werden. Für Beirut sind städtische Veränderungen oder das Verschwinden der historischen städtebaulichen Strukturen selbstverständlich nichts Neues. Schließlich war die Stadt ab 1516 bis zum Ende des ersten Weltkrieges dem Osmanischem Reich untergeordnet, wurde danach von Frankreich regiert, bis sie 1943 ihre Unabhängigkeit erhielt und ab dann einen Aufschwung erlebte, der bis zu dem fünfzehnjaÅNhrigen Bürgerkrieg 1975-1990 andauerte. Genau zum heutigen Zeitpunkt erscheint es einem unverständlich, dass die Stadt in einer Periode des Friedens und der Unabhängigkeit durch einen Immobilienkrieg weiterhin “zerstört” wird. Die Gebäude in Frohnapfel’s ‘Confrontation Sites‘ zeigen aber auch, dass Beirut in der Phase der Unabhängigkeit stark dem internationalen Stil folgte. Beinahe alle Gebäude, die in ‘Confrontation Sites‘ dokumentiert sind, tragen die Spuren des Zeitgeists und den architektonischen Stil der 40er – 80er Jahre, dem man auch in anderen Städten oft begegnet. Es ist schwierig zu wissen, ob diese Bauten damals auch auf Kosten anderer Gebäude errichtet worden sind oder nicht. Jedoch gibt es Gründe genug, sie zu erhalten, denn sie vertreten eine Periode, in der die Akteure der Stadt ihre Unabhängigkeit mit diesen Bauten ausleben und sich der Welt auf diese Weise öffnen wollten. Es wäre eine Verantwortung gegenüber der Stadt und ihrer Geschichte, diese knapp siebzig Jahre alten Bauten zu renovieren, um sie als komfortable Räume ins heutige Leben zu integrieren. Diese Art von Verantwortung aber gefällt Investoren gar nicht. Und, auch wenn die Idee, alte Gebäude zu renovieren viel versprechend klingen mag, das heutige Immobiliengeschäft lässt mit seiner Profitmaximierung an diesem Punkt keine Naivität zu. Der Text, den Ina Wudtke in ihrem Video mit dem Titel ‘Der 360.000-Euro-Blick‘ spricht, stellt diese Umstände effektiv dar. Für die Arbeit nahm die Künstlerin vierundzwanzig Stunden lang den Blick aus dem Fenster ihrer damaligen Wohnung auf den Berliner Fernsehturm auf. Ihre Videoarbeit verbindet den Blick auf das Berliner Wahrzeichen im langsamen Sonnenauf- und Untergang mit der klaren, emotionslosen Erzählung ihrer eigenen Entmietung. Ihre Betrachtungen umfassen zum einen die Zeit ihres Einzuges 1998, also fast zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, und umspannen eine Zeitgeschichte von Berlin, die bis zur Jahrhundertwende, der Entstehungszeit des Gebäudes, zurückgeht. Während der fünfundvierzig Minuten des Videos schildert Wudtke die nahe Geschichte Ost-Berlins über ihre persönliche Erfahrung, die darin resultierte, dass sie ihre Wohnung nach jahrelangem Widerstand gegen den neuen Eigentümer doch verlassen musste. Diese Geschichte ist symbolisch für viele Gebäude, die kurz vor dem zweiten Weltkrieg den Händen der oftmals jüdischen Eigentümern entrissen und teilweise erst nach dem Fall der Mauer ihnen oder ihren Nachfahren zurückgegeben wurden. Berlin, das Mitte der neunziger Jahre in Schulden erstickte, begann Stadtteile im Ostteil der Stadt mit vielen baufälligen Gebäuden zu ‘Renovierungsgebieten’ zu erklären, um auf diese Weise ausländische Investoren anzulocken. Die Bauten wurden zu Spekulationsobjekten, die durch ‘Modernisierungsgesetze’ und Steuervergünstigungen wieder in den Immobilienmarkt eingespeist werden sollten. Doch die ‘Modernisierung’ alleine erreicht ganz andere Resultate als die ‘Renovierung’. In ihrer Erzählung fasst Wudtke den Unterschied dieser zwei Begriffe zusammen: Eine Renovierung nimmt die nötigen Maßnahmen vor, um den Komfort der Bewohner eines Gebäudes zu steigern, während eine Modernisierung den potentiellen Käufer beäugt und somit den Wert des Immobilienobjekts zu steigern wünscht. Die Konsequenz der Modernisierung ist, dass die Bewohner dieser Gebäude sich die Miete und das Leben in der parallel veränderten Umgebung nicht mehr leisten können und in die Peripherie der Stadt umziehen müssen, oder gar ganz vertrieben werden. Diese Vorgänge sind nicht nur Realität in Berlin, fast alle charismatischen Städte sind diesem Phänomen ausgesetzt. Wenn wir uns daran erinnern, dass heutzutage 54% der Weltbevölkerung in Städten lebt, wird die Lebensqualität in Städten wichtiger als je zuvor. Diesbezüglich stellt die Privatisierung der Städte einen Kontrast gegenüber der ansteigenden urbanen Bevölkerung dar, die Wudtke in ihrem Video hervorhebt. Gerade hier liegt die Relevanz und Stärke dieser Ausstellung: Surreal Estate schildert die zeitgenössischen Veränderungen und Umwälzungen zweier Städte, die, trotz des geografischen Abstands und den kulturhistorischen Unterschieden, das Selbe erfahren. Die gemeinsame Aussage von Frohnapfel und Wudtke ist, dass heute die Geschichte der Städte nicht durch Kriege, sondern Spekulationen im Immobiliengeschäft gelöscht werden. Doch werfen beide Künstlerinnen keinen nostalgischen Blick auf die beiden Städte. Um ihrer Aussage einen festen Boden zu geben, gehen sie mehr wie Archäologinnen vor und legen die Fragmente, Spuren oder Lücken in Beirut und Berlin frei. Frohnapfel’s Installation ‘Rubble of Reconstruction’ (2012-2013) erinnert daher an archäologische Ausgrabungen: Die in einer Vitrine ausgestellten, achtzehn kleine Trums sind von der Künstlerin auf Abrissgrundstücken in Beirut gesammelt worden und zeigen Fragmente von Kacheln, Schildern und Steinfliesen zahlreicher älterer Bauten. Ein Plakat, das die Lage dieser Fundstücke darstellt, ergänzt die Installation und verstärkt die Assoziation zur Archäologie. Parallel dazu untersucht Wudtke’s Fotoserie ‘Gaps in Berlin’ (2003) die nahe Geschichte Berlins. Die für diese Ausstellung ausgewählten, fünfzig Farbaufnahmen mit jeweils darunter erwähnter Adresse sowie einer kurzen Beschreibung identifizieren ehemalige jüdische Schulen, Krankenhäuser, Geschäftsräume und Synagogen in Berlin vor dem zweiten Weltkrieg. Einige dieser Gebäude verschwanden, wurden ersetzt durch neue Bauten oder wurden zu Stadtlücken in Form von undefinierten Grünanlagen, andere bestehen noch heute und beherbergen neue Funktionen. In diesen Aufnahmen geht es jedoch nicht nur um die Architektur von Berlin, sondern auch um die Menschen, die während des Kriegs vertrieben oder ermordet wurden. Der Verlust wird spürbar auf den Fotos, die keine Gebäude zeigen und dadurch keine Referenz anbieten, sondern eher die verbliebenen Lücken in Berlin einrahmen. Auch in dieser Arbeit liegt die Assoziation mit der Archäologie nicht weit; mit den Beschreibungen, Daten und Adressen unter den Bildern bekommt man das Gefühl, als ob man mitten in einer gegenwärtigen Stadt selber unsichtbare Ruinen entdecken würde. Dieses Gefühl erinnert an den Eindruck, den man auch bei den Serien ‘Construction Sites‘ und ‘Confrontation Sites‘ von Doris Frohnapfel hat. Beide Künstlerinnen schaffen es auf eine sehr natürliche Weise, den Besucher mitzunehmen zu ihren jeweiligen Geschichten. Diesbezüglich und auch inhaltlich stehen die Arbeiten von Frohnapfel und Wudtke im Dialog miteinander. Beide Ansätze konzentrieren sich auf die Vertreibung aus der Stadt, die dadurch entstehende gesellschaftliche sowie architektonische Leere im städtischen Gewebe und schließlich auf die Unterbrechung der Geschichte der Städte. Sie definieren Beirut und Berlin durch die (Bau-) Lücken, was man auf mehrere gegenwärtige Städte übertragen könnte. Surreal Estate wird dadurch ungezwungen zu einer Kritik der im Umbruch befindlichen zeitgenössischen städtebaulichen Struktur unserer Städte und ist ein schönes Beispiel für den Blick aus der bildenden Kunst auf die Architektur.

Aslı Çiçek (1978 Istanbul) studierte an der Akademie der Bildenden Künste München und schloss 2004 als Dipl.Ing. Innenarchitektin ab. Sie hat in München, Wien, Rotterdam, Gent und Brüssel in verschiedenen Architekturbüros gearbeitet, darunter Gigantes Zenghelis Architects (2005-2007) und Robbrecht en Daem Architecten (2007-2014). Seit 2009 lehrt sie Entwurf und Gestaltung an der LUCA Architekturfakultät von KU Leuven. Sie schreibt regelmäßig für Architektur- und Kulturzeitschriften, publizierte Essays und war Redaktionsmitglied der elften Ausgabe des flämischen Jahrbuchs für Architektur, 2014. Sie lebt und arbeitet in Brüssel und Istanbul.