Mix my religion

Über die Arbeit von Ina Wudtke

Ulrich Schötker, 2006

Die Emanzipation des einen bedeutet die Unsicherheit des anderen. Im Zeitalter der Ungleichheiten und Differenzen, die die moderne Gesellschaft nicht nur in das Blickfeld rückte, sondern zugleich geschaffen hat, erscheint es notwendig, diese Konstellation anzuerkennen, um dann die Überlegungen anzustellen, wie Verhaltensweisen, Rollenmuster, sogar Gesetze sich konstituieren. Ina Wudtke setzt sich in ihrer Arbeit mit Rollenmuster und ihrer institutionellen Zugehörigkeit in der modernen, demokratischen Gesellschaft auseinander. Sie orientiert sich dabei sowohl an die überlieferten Traditionen, die heute oft als fundamentalistisch oder folkloristisch bezeichnet werden, als auch an angemessene Möglichkeiten, diesen interpretativ zu begegnen.

Wudtke bezeichnet ihre Arbeitsweise als eine Forschungsarbeit. Dieses Methodenverständnis lässt sich anhand ihrer Arbeit »Believe«, an der sie in der Zeit von 2001 bis 2004 gearbeitet hat, nachweisen. »Believe« besteht aus Fotoportraits, die man drei Blöcken zuordnen kann. »Jewish Orthodox Believers« zeigt Porträts orthodoxer, jüdischer Männer aus New York, »Benedict Monks« zeigt Mönche des Benediktiner-Ordens aus Deutschland, und »Orthodox Muslim Believers« orthodoxe Moslems aus Istanbul. Allen abgebildeten Personen ist dabei eines gemeinsam: Sie lassen sich den drei patriarchalisch, monotheistischen Religion zuordnen – dem Judentum, dem Christentum und dem Islam.

Ihr grundsätzliches Interesse an dieser Porträtstudie zielt auf die Tatsache, dass noch heute moderne Rechtssysteme, die sich selbst als neutral bezeichnen, deutlich durch das Religionssystem vorstrukturiert sind. Explizit wird dies durch die Beobachtungen des Heiratsrechts. Um das Machtsystem prägnant zu analysieren, liegt es nahe, sich zunächst auf die Rollenschemata religiöser Gemeinschaften zu konzentrieren. In ihrer ersten Fassung zeigt »believe – original« daher die Porträt-Gruppen in einem geschichtlichen Verlauf. Sie sind in aufeinander folgenden Dreiecksformen als Superzeichen angeordnet, und erinnern so an das fast-forward-Symbol. Geht man von einem geschichtlichen, linearen Zeitablauf aus, so ließe sich sagen, dass zunächst das Judentum, später das Christentum und dann die wesentlich jüngere Religion des Islam entstanden sind.

Ihre Geschichten sind oft durch geografische, politische und kulturelle Kämpfe – auch zur gegenseitigen Identitätsstiftung – begleitet gewesen. Die Form der Verdichtung und Konzentration, die Wudtke anbietet, führt daher bildhaft vor, wie stark nicht nur das Machtkomplex der Religion, und damit auch das Machtkomlex des Patriarchats in der globalen Gesellschaft verankert ist, sondern wie sie sich zugleich in Relation zueinander verstärkten.

Unter den Bedingungen einer säkularen Moderne muss dies allerdings widersprüchlich erscheinen und als wiederkehrendes Muster entlarvt werden. Das ist aber selbst dem Projekt der »Aufklärung« nicht gelungen. Zwar verweigert ein säkularer Blick sich einer religiösen Perspektive. Jedoch lässt sich selbst die europäische Aufklärung als ein Muster zur Wahrheitssuche bezeichnen, das von religiösen Tendenzen niemals frei war. Erst die beständige Wiederkehr der Erfahrung und Analyse einer Welt, die Vernunft immer wieder neu verhandeln muss, thematisiert den Zustand der modernen Gesellschaft. Darin erhält Kunst mit ihrem anthropologischen und sozialen Bezug eine eigentümliche Bedeutung.

Ungeachtet der religiösen Orientierung nutzt Wudtke daher ihre Position als Künstlerin, um auf diese blinden Flecken des Rechtsystems und des Religionssystems aufmerksam zu machen. Sie stellt deren Zuweisungen von Rollenmuster für die Frau und für den Mann, deren verdeckten Einflüsse auf Gesetze säkularer Rechtssysteme und ihre Beteiligungen an Demokratisierungsprozessen heraus. Wudtke hat ihre Arbeit »Believe« daher mehrfach ausgestellt und entscheidende Elemente unterschiedlich medial eingesetzt.

So wurde im Zuge der Ausstellung »Fokus Istanbul« im Jahr 2005 auf drei Bildschirmen das Fotomaterial in Form einer Slide-Show unter dem Titel remix#1 präsentiert. Auf einem vierten Bildschirm konnte der Besucher zugleich einem Interview folgen, in dem zwei Religions- und Politikwissenschaftlerinnen der Frage nachgehen, wie stark die verschiedenen patriarchalischen Religionen Einfluss auf sowohl das Heiratsrecht, als auch auf die Rechte der Frau und des Mannes als juristische Personen nehmen. Zweifellos lassen sich dabei Unterschiede innerhalb der Rechtssysteme, auch der unterschiedlichen Wahrnehmung dieser Rechte erkennen, aber eine Interpenetration ist in jeder der angesprochenen Kulturen auszumachen. Wudtke weist damit auch für die westliche Kultur nach, wie stark hiesige Religionen auf das moderne, säkulare und positivistische Recht Einfluss genommen haben.

In der Galerie Meerrettich – situiert im Glaspavillon an der Volksbühne – inszenierte Wudtke das Material in einem neuen Kontext unter dem Titel remix#2. Sie verwandelte die Galerie in einen türkischen Tee-Pavillon. Wudtke bildete eine Referenz zum Club SO36 in Kreuzberg, in dem seit einigen Jahren Gay-Hane veranstaltet wird. Nicht zuletzt verwiesen auf diesen Kontext die genutzten Stoffe, die zur Dekoration des Clubs dienten. Am Eröffnungsabend erwartete die Besucher der Ausschank von Tee in einer loungeähnlichen Atmosphäre. Die Verbindung ihrer Fotoarbeit, die dort nun als Projektion gezeigt wurde, mit dem von schwulen Türken und lesbischen Türkinnen organisierten Club-Abend, der als Treffpunkt eines gerade in islamischen Kulturen stark geächteten Publikums gilt und viel Zuspruch in der Berliner Club-Szene erhält, machte mit Bezug zur Ausstellung auf eine bestehende türkische Kultur aufmerksam, die in Istanbul mit Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei beantwortet wird.

Wudtke, bekannt in der Berliner Club-Szene unter dem Namen T-Ina Darling, beruft sich damit auf ihre Arbeit als DJ. Im DJ-Kontext gibt es für den jeweils spezifischen Raum (Tanzclub, Lounge, Radio) einen Mix der die wichtigsten Elemente des Originalmusikstücks für diese Räume neu zusammenstellt: daher der Ausdruck ‚remix’. In besonderer Hinsicht verwendet sie diese Arbeitsmethode auch in ihrer künstlerischen Arbeit. Ihre Arbeiten erzeugen in dem vorgefundenen Kontext einen jeweils anderen emphatischen Sinn, der auf die Erfahrungen und Analysen des Ortes und seiner Spezifik Bezug nimmt. Sie berücksichtigt dabei Formen der Improvisation, die man aus der afroamerikanischen Kultur kennt, die zur eigenen Kulturbildung viel stärker als europäische Traditionen Hybridität und Differenzdenken anwendet.

Dieses Verständnis findet auch in anderen Arbeiten der Künstlerin seine Relevanz. In der Video- und Soundinstallation Vinyl Sound Scape, die in Kooperation mit Inga Svala Thorsdottir entstand, zeigt sie auf fünf Videomonitoren verschiedene Plattencover mit Musik, die sich relativ eindeutig einer weißen, deutschen Schlagermusik der 50er Jahre zuordnen lassen. Zudem sieht man Performance-Ausschnitte in denen Thorsdottir Cover und Platten pulverisiert und Wudtke den Sound der Zerreibung erneut als Soundcollage remixed. An dieser Arbeit wird die Komplexität dessen, was remix bedeutet, auf unterschiedlichen Ebenen bestimmt. Sie dekonstruieren als Arbeiter und DJ das Frauenbild in Musikvideos, sie dekonstruieren den Kulturbestand eines weißen Mainstream-Kultur sowohl auf der Material- als auch Soundebene und recyceln als kleine Maschinenfabrik den Schrott der Kulturindustrie.

Dabei ist sie durchaus in der Lage, den sensiblen Bereich der symbolischen Identifizierung zu respektieren. In ihrer Arbeit LOVE, die eine große Anzahl porträtierter Boygroup-Fans abbildet, werden die stereotypen Muster des Fan-Seins überdeutlich. Es zeigen sich junge Mädchen, die an Konzerten wie N´SYNC und BackStreetBoys teilnehmen. Grell geschminkt und mit selbstgemalten Schildern belegen sie ihre Verehrung und Bewunderung. Doch dieser Qualität einer ästhetischen Erfahrung steht die stereotype Identifizierung mit einem Kulturprodukt der Massenmedien gegenüber. Wudtke hat, um diese Paradoxie zu verdeutlichen, die Anordnung der Bilder in Form eines Schriftzuges angelegt, der die Einseitigkeit der Verliebten konzentriert. Die Einzel- und Gruppenporträts ordnen sich zu einem riesigen LOVE.

In der sehr polarisiert angelegten Arbeit »Heilen&Vernichten«, die die Rolle des Mannes als Soldat und die Rolle der Frau als Krankenschwester gegenüberstellt, zeigen sich formale Umsetzungen, die selbst das Ornamentale in seiner Musterhaftigkeit aufnehmen. Die Porträtreihe zeigt zum einen Soldaten der repräsentativen Truppe der Deutschen Bundeswehr. Das ausgesuchte Personal dient staatlichen Protokoll-Veranstaltungen. Demgegenüber steht ein Bildmaterial, welches deutsche Krankenschwestern zeigt. Wudtke reflektiert die vermeintlich neutrale Rolle der Frau als Krankenschwester im Krieg, die Organisationen wie dem Roten Kreuz zugeordnet ist, oftmals jedoch den jeweiligen ideologisch durchsetzten Institutionen untergeordnet und damit auch zum Kriegshelfer, zum Komplizen der Truppe wird. Die Ausstellung der Arbeit durchbricht daher die Polarisierung, indem die Präsentation eigenen formalen Regeln folgt. Die lineare Hängung zeigt die Porträts der Männer und Frauen nicht im 1:1-Wechsel, wie es der Beginn auf der linken Seite erwarten ließe. Es bilden sich Strukturen, die einen eigenen Rhythmus besitzen und Leerstellen neben Neubeginne aufweisen. Aber selbst die horizontale Ausrichtung wird schließlich durch Spiegelungen reflektiert und die dualistische Rollenzuweisung wird in sich selbst gekehrt. Soundkurven gleich gibt sie damit das Bildrepertoir einer Analyse frei, das die Rollen und deren »Natürlichkeit« in ihrer eigenen Ornamentalität betrachten lässt.

Wudtke arbeitet an Fragen zur Gendertheorie und Genderpolitik seit 1992, auch in dem Arbeitszusammenhang der Zeitschrift Neid, welche sie zusammen mit Heiko Wichmann und Claudia Reinhardt gegründet hatte. Wudtke versteht die Zeitschrift als ein gemeinsames Kunstprojekt, zu welchem sich in ständig veränderter Konstellation internationale Autoren/-innen, Performer/-innen, Musiker/-innen, Künstler/-innen, Fotografen/-innen u.a. zusammenfinden und thematisch arbeiten. Künstlerische Arbeit, gerade aus der Perspektive einer Massenkultur und eines Kunstmarktes, bedarf neuer sozialer Zusammenhänge und Netzwerke, an deren Realisierung Publikation, Reflexion und Kunstkritik unter veränderten Bedingungen neu ausgerichtet werden müssen.

So bezieht sich auch die Arbeit Gaps in Berlin auf Fragen zum Netzwerk. Wudtke verfolgte das durch den Nationalsozialismus ausgelöschte und durch die spätere Baupolitik der Nachkriegszeit architektonisch retuschierte Netzwerk jüdischen Lebens in Berlin. Durch den Mauerfall und seiner ausgelösten Re-Historisierung eines Gesamtdeutschlands wurde deutlich, wie alte Spuren neu besetzt und damit topografisch aus dem Gedächtnis gelöscht wurden. Wudtke suchte die verschiedenen Orte auf und stellte damit ein künstlerisches Archiv zur Disposition, dass die Schnittstelle eines sozialen, ethischen und ästhetischen Gedächtnisses anzeigt.

Wudtke fokussiert in all ihren Arbeiten auf die kritische Funktion der Kunst. Jenseits einer möglichen Verfügbarkeit von Kunst regt sie dazu an, Kunst in ihrer modernen Idee als ein Werkzeug zu verstehen, das dem Betrachter und damit der Gesellschaft zur Selbstreflexion dienen kann. Mit ihrer Arbeitsweise werden im Handlungsraum der Kunst Fragen an die Gesellschaft gestellt und im gesellschaftlichen Handlungsraum künstlerische Reflexionen fortgesetzt.